Es mag in jedem Lappenladen eine bemerkenswerte Auswahl an Blüschen geben. Es mag eine Vielzahl alleinstehender Bürotassen geben mit schlauen Sprüchen. Es mag höchst einfallsreiche Souvenirs geben wie die Strickmütze mit dem Wappen von Norderstedt, die sicher jedem Norderstedter gut zu Gesicht steht. Doch das ist alles nichts im Vergleich zum Angebot an Fahrradklingeln. Hier bekommt das Wort Produktpalette den richtigen Sound. Er sollte schön hoch und bei 85 Dezibel liegen, rät der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club. Klingt etwa so laut wie ein Saxofon.

Aber Saxofonspielen macht sich auf dem Rad schlecht, zumindest während der Fahrt. Deshalb wurde die mechanische Klingel erfunden. Die Kulturgeschichte reicht zurück bis … Karl von Drais jedenfalls verzichtete darauf, als er mangels Hafer und Pferd seine erste zweirädrige Laufmaschine bestieg. Er wird wohl die Passanten rufend gewarnt haben wie mancher Radfahrer heute. Vorsicht! Achtung! Bahn frei! Oder launiger: Klinglingling! Die Webcam hat das leider nicht aufgezeichnet. Vielleicht klemmte der Datenschutz. Der Blick zurück zeigt ohnehin nur Metall mit und ohne Kleeblatt. Im Internet werden Fahrradklingeln aus der DDR angeboten. Ungebraucht! Aber wer will das beweisen?

Kunstbegabte Heimwerker griffen damals zum Pinsel und malten Marienkäfer aufs Gehäuse. Niemand soll behaupten, dass Selbstverwirklichung im Sozialismus unmöglich war. „Der Individualität am Lenker sind keine Grenzen gesetzt.“ Das war ein subversiver politischer Spruch, Widerstand pur. Aber wer will das beweisen?

Die heutige Fahrradindustrie schenkt dem Teil wenig Liebe. Die Klingel sei der Wurmfortsatz der Radindustrie, heißt es sogar in einer Anklageschrift. Leider hinkt der Vergleich. Der Wurmfortsatz erscheint entbehrlich. Die Klingel ist Pflicht. So will es Paragraf 64 a der Straßenverkehrszulassungsordnung. Wer mit ohne „Schallzeichen“ erwischt wird, zahlt 15 Euro Bußgeld. Eine Hupe gilt übrigens nicht. Nur in Österreich. Die landsmannschaftliche Färbung setzt sich zunehmend durch. Schweizer Fahrradklingeln erinnern an Kuhglocken und sehen auch so aus. Das kann der Schweizer Postbus toppen. Er lässt auf Bergstraßen einen markanten Dreiklang aus Rossinis Oper „Wilhelm Tell“ los.

Strenggläubige behaupten, die Fahrradklingel sei ein temporäres akustisches Signal zur Warnung anderer Verkehrsteilnehmer. Geschenkt. Sie ist ein optischer Ausdruck der Persönlichkeit! Der ausgeruhte Typ wählt ein Motiv, das mit der runden Form harmoniert: Donut, Melone, Fliegenpilz, Regenschirm, Mond oder Schallplatte: „Rock ’n’ Roll!“ Das bietet sich an. Und der Fußball natürlich. Nicht nur Dynamo lässt die Fans mit Vereinsdesign klingeln.

Wirklich schöne Teile finden sich in Spielzeugläden wie Amida in der Neustädter Markthalle in Dresden oder in den Nonbook-Abteilungen der Buchläden. Klingel ist Nichtbuch, das stimmt. Doch Buchfiguren werden gern als Motiv verwendet. Zum Beispiel Prinzessin Lillifee, der kleine Maulwurf, der Regenbogenfisch oder die Tigerente von Janosch. Da ist für kindliche Leser manches dabei, falls sie noch lesen. Einhorn in jeder Farbe. Leider haben es große literarische Figuren wie Effie Briest, Anna Karenina oder Faust sein Gretchen noch nicht aufs Klingelblech geschafft.

Bei 78 Millionen Rädern im Land und also 78 Millionen Radklingeln scheint es Reserven zu geben. Erwachsene müssen sich nicht mit braven Vichykaros oder Pünktchen begnügen. „Bei keiner anderen Erfindung ist das Nützliche mit dem Angenehmen so innig verbunden wie beim Fahrrad“, meinte Adam Opel, um 1900 der größte Fahrradhersteller Deutschlands. Das schließt die Klingel natürlich ein.

Sie lässt sich vielseitig verwenden, etwa am Bollerwagen zum Herrentag oder nebst Trillerpfeife beim Protestmarsch. Wer mag, kann auch am Lenker seine politische Gesinnung zeigen. Es gibt die Klingel mit dem Kopf von Karl Marx, und es gibt sie mit dem Spruch „Gott hört mich“. Wahlweise mit dem Heiligen Christophorus, der das Jesuskind auf der Schulter trägt. Blümchen bilden das Symbol der Friedensbewegung.

Andere Hersteller greifen zu Premiummessing und Edelstahl, handgebürstet. Da schnellt der Preis über die 50-Euro-Marke. Manche bevorzugen ein unsichtbares Design und schmieden einen windschlüpfrigen Ring aus Alumix. Wie immer wirkt das kleine Schwarze sehr elegant.

Eine gute Klingel sollte 30.000-mal Klingeln aushalten. Das schafft mancher an einem Wochenende quer durch den Wald. Doch wenn der Wanderer das Dingdong im Rücken hört, ist es meistens zu spät. Dann hilft ihm nur ein beherzter Sprung ins Gebüsch. Und es ist mitten in den Brennnesseln völlig wurscht, ob die Klingel geblümt oder gestreift tönt.

Text: Karin Großmann
Foto: Thomas Kretschel

Fahrradklingeln

Zurück zur Übersicht